Hegel oder: The city never sleeps
Michael Seibel • Subjekt, Substanz und das Nichts bei Hegel und in der Finanzindustrie (Last Update: 27.11.2017)
Dieter Henrich hat überzeugend, vorgebracht:
»Die Substanz ist als Subjekt zu bestimmen.« Dieser Grundsatz Hegels formuliert sein philosophisches Programm vollständig und profiliert es gegen seine wichtigsten Alternativen.“1
Hegel drückt diesen Sachverhalt in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes so aus:
”Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“2
Kann man entlang dieser Formel dazu kommen, die heutige geschichtliche Wirklichkeit, um mit Hegel zu reden, auf wirkliche Weise darzustellen? Und was würde das heißen?
Substanz steht für den Inbegriff des dem Wahren Zugrundeliegenden, dessen, was überhaupt Eigenschaften tragen kann, was prinzipiell als bestimmbar gedacht wird und das z.B. auch falsch verstanden und verfehlt werden kann. Im Begriff Substanz kommt Sein als Denkbares vor, als etwas, das sich in die Immanenz des Denkens hineinnehmen läßt. Das heißt nicht, daß es schon allein mit dem Begriff bereits konkret gedacht und das Denken der Mühe der Bestimmung enthoben wäre. Ganz im Gegenteil. Der Begriff der Substanz formuliert eine nie endende Aufgabe für das Denken. The city never sleeps. Mit dem Begriff der Substanz ist schlechterdings vorausgesetzt, daß Sein Denkbar-sein ist.
Geistesgeschichtlich geht das darauf zurück, daß alles Seiende als Geschöpf, als hervorgegangen aus einem göttlichen Plan gedacht wird. Erst der Seinsbegriff des späten Heidegger wird versuchen, ein Sein zu denken, das sich nicht von der Immanenz des Denkens einfangen läßt. Heidegger wird dazu versuchen, ein menschliches Selbstverständnis zu skizzieren, das den Menschen als ein Wesen zeigt, das bemüht ist, dies Entgehen des Seins im Denken zuzulassen. Folgt man Heidegger, so ist es keine geringe Herausforderung, die Nichtidentität von Identität und Unterschied auszuhalten.
Hegel dagegen sieht gerade in der Identität von Identität und Nichtidentität die produktive Gewähr des Wissens. Substanz steht bei Hegel für das, was sich von anderem (durch eine erste Negation) unterscheiden läßt und (durch die Negation der Negation) als Unterschiedenes Bestand hat. Substanz erweist sich als gewußte Substanz, als Wissen, Selbstbewußtsein, letztlich als Geist. Umgekehrt erweist sich das Subjekt als suisuffiziente Arbeit der Negation letztlich als Substanz.
“Der Kreis, der in sich geschlossen ruht und als Substanz seine Momente hält, ist das unmittelbare und darum nicht verwundersame Verhältnis. Aber daß das von seinem Umfange getrennte Akzidentielle als solches, das Gebundene und nur in seinem Zusammenhange mit anderem Wirkliche ein eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit gewinnt, ist die ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs. Der Tod, wenn wir Jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes, Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt. – Sie ist dasselbe, was oben das Subjekt genannt worden, welches darin, daß es der Bestimmtheit in seinem Elemente Dasein gibt, die abstrakte, d.h. nur überhaupt seiende Unmittelbarkeit aufhebt und dadurch die wahrhafte Substanz ist, das Sein oder die Unmittelbarkeit, welche nicht die Vermittlung außer ihr hat, sondern diese selbst ist.“3
Hegel beschreibt also eine Doppelbewegung von der Substanz zum Subjekt, eine Identität, die sich über eine Kette von Negationen ergibt und umgekehrt vom Subjekt zur Substanz, einer Nichtidentität, eines sich Einlassens des Subjekts auf sein anderes und die Identität dieser beiden Bewegungen, eben die Identität der Identität und Nichtidentität. Auf einen nur scheinbar leichter verständlichen Ausdruck gebracht: Hegel behauptet, daß es möglich ist, das Werden zu denken, ohne daß die Dynamis, die Veränderung, den jeweils erreichten Stand des Wissens über den Haufen schmeißt. Hegel behauptet schlicht und einfach, daß das Subjekt selbst am Ende aller Zweifel als Geist das Werden und das Bleibende ist und sich als das weiß.
Um etwas von etwas anderem zu unterscheiden, bedarf es nicht nur einer unterscheidenden Bemühung, diese muß darüber hinaus im Gegenstand auf etwas treffen, das standhält und sich nicht als bloßer Schein herausstellt. Dieses Substantielle läßt sich, worauf Kant bereits bestand, nicht als dem Akt der Bestimmung gegenüber vorgängig denken. Die Substanz erscheint; sie ist Erscheinung im Akt des Bestimmens und deren Negativität. Die Substanz erscheint mithin als Subjekt. Hegel beschreibt, wie Differenzieren nicht als leere Allgemeinheit, sondern als gefüllte, mit einem sich ständig erweiternden Kosmos an Besonderungen gefüllten Allgemeinen möglich ist.
Das Differenzieren, das Hegel verstehen will, ist nie abgeschlossen, sondern permanent in Aktion. Es ist als das gleichzeitig Prinzip, Prozess und System. Insofern versteht er auch Wissen nicht als die Wahrheit einzelner Urteile, die auf eine jeweils spezifische Weise ein für alle mal begründet werden können, je nachdem, wo ihr Gehalt auf ewig im unzerrissenen Netz der Ursachen und Wirkungen steht, sondern als Bewährung des jeweiligen Urteilsgehalts im aktuellen Prozeß der Wissensschöpfung. Sollte man mit der Vorstellung sympathisieren, es gehe Grundlagenforschungen um die Findung möglichst stabiler ewiger Beschreibungen des Elementaren ihres Gegenstandes, technischen Forschungen hingegen um die Bewährung des gesamten Vorwissens bei der Lösung aktueller Probleme, dann wäre Hegels Denken primär dem technischen Impuls verpflichtet. Nicht in dem Sinn, daß Hegel nicht fundamental spekuliert, in der Tat tut er nichts anderes, aber anders als andere traditionelle Ontologen bindet er nicht den Weg seines Denkens an seine fundamentalen Voraussetzungen, sondern umgekehrt die Umdeutung, die Revision, die Revolution seiner Voraussetzungen an die Denkbewegung. Alle Voraussetzungen sind vom jeweiligen Ergebnis her neu zu denken, in der Phänomenologie, in der großen Logik oder der Enzyklopädie versucht er, genau das vorzumachen.
Natürlich läßt sich einwenden, daß Hegel für den Fortschritt der empirischen Naturwissenschaften nicht das geringste getan hat. Etwas an seinem Denken zu entdecken, was heuristisch hilfreich sein könnte, dürfte vergebene Liebesmüh sein. Aber andererseits bewegen die Ergebnisse der empirischen Forschung die Prinzipien und Strukturen der globalen Forschung und ihrer Einrichtungen ebenfalls nur minimal. Paradigmenwechsel, ein verändertes Selbstverständnis, veränderte Forschungsstrukturen sind keine Erträge des empirischen Forschens. Um den Geist, der sich derart geschichtlich selbst entfaltet, zu beschreiben, bieten sich nach wie vor die Mittel Hegelscher Dialektik an, z.B. um so etwas wie Systemautonomie zu denken. Hegels Grenzen bestehen nicht darin, nicht empirisch genug argumentiert zu haben.
Sondern?
Heute sind wir augenscheinlich von einer Vielzahl hinfälliger oder zumindest krisenanfälliger geschichtlicher Ganzheiten umgeben. Hegels Subjekt behauptet die Zentralperspektive auf die Geschichte. Es behauptet, die Einheit des Gedachten im Denken herstellen und aufrecht erhalten zu können, und der Begriff der Substanz behauptet, daß diese Einheit im Gedachten nicht hinfällig wird.
Das schlechthin nicht Bestimmbare wäre das Absolute von außen, vom selbst nicht Absoluten aus gesehen, z.B. der Gott der Religion von seiner Gemeinde aus. Wenn etwas das Absolute bestimmt, dann allein es selbst. Und dieser Selbstbestimmungsprozeß als Selbstwerdungsprozeß des Absoluten ist das, was Hegel Geist nennt.
Was hieße also absolutes Wissen im Sinne Hegels heute? Sicher nicht, daß sich die Akten der Natur- oder Sozialwissenschaften zuklappen ließen, weil keine Frage mehr offen ist. Ganz im Gegenteil. Hegel versteht jedes Wissen, auch das absolute, als Prozeß. Das Wissen ist in Bewegung oder es ist gar keins. Die methodischen Zuwendung zu immer neuen Gegenständen ist unabschließbar. Sie findet allerdings, sofern sie im Bereich der heutigen exakten Wissenschaften stattfindet, auf niedrigem Niveau statt, gemessen an der Stufenfolge, die die Phänomenologie des Geistes vorsieht, bestenfalls auf der Ebene von Verstand und Erscheinung, die Hegel knapp skizziert mit: „In den bisherigen Weisen der Gewißheit ist dem Bewußtsein das Wahre etwas anderes als es selbst.“
Die entwickelteren Ebenen des Subjekts bei Hegel des werdenden Selbstbewußtseins, der Gewißheit und Wahrheit der Vernunft und des Geistes sind nicht ohne Entsprechungen in der heutigen Weltgesellschaft, aber sie entwickeln sich nicht in den heutigen Wissenschaften und als deren Weiterentwicklung, sondern auf den Ebenen von gesellschaftlicher Konkurrenz, Ökonomie, Weltfinanzsystem, politischen Herrschaftssystemen und deren Antagonismen. Deren jeweilige Wissensbestände und vor allem die mit den Prozessen der jeweiligen Teilsysteme verbundenen Krisen sind nicht in bestehenden Natur- und Sozialwissenschaften abgebildet, sofern ihnen alle wesentlichen Momente der Reflexion abgehen. Wenn die Ökonomie z.B. den Markt als den effektivsten Ort der Bedarfsfeststellung sämtlicher Marktteilnehmer betrachtet, macht sie aus dem Markt etwas, das in der Hegelschen spekulativen Dialektik ein Subjekt zu nennen wäre, nämlich einen Produzenten und Träger differenziertesten und lebendigsten Wissens, eines Wissens allerdings, das auf eine Vielzahl von Anbietern und Verkäufern verteilt ist und sich nirgends als Einheit präsentiert, außer in nachträglichen, Hegel hätte gesagt, in toten statistischen Erhebungen und vorläufigen, mehr oder weniger unsicheren Schätzungen. Es gibt keinen befragbaren Träger der Einheit des Wissens. In diesem Sinn ist der Markt die permanente Krise. Nicht für die Marktteilnehmer, die dort ihre Käufe und Verkäufe abwickeln, aber er ist Krise dessen, was den Markt als ablaufenden Prozeß davon trennt, Wissen um sich selbst zu sein. Genau daran wird heute unter Stichworten wie big data gearbeitet, womit allerdings keinerlei Garantie besteht, daß diese Wissensproduktionen nicht einfach in neue Krisen führen.
Aber ist nicht genau das die Aktualität Hegels? Hat er nicht genau das spekulativ mit der Dialektik zu beschreiben versucht, krisengetriebenes Wissen?
Selbstgenügsames, suisuffizientes Wissen zeigt sich, wenn überhaupt, dann in den Naturwissenschaften, dort jedoch nur partikular in den Grenzen von Einzelwissenschaften und nirgends in der Reflexion auf den Status als Wissen. Keine noch so herausragende wissenschaftliche Leistung verhindert von sich aus, daß der entsprechenden Institution mitsamt den dort tätigen Wissenschaftlern nicht am nächsten Tag der Strom abgedreht wird. Was notwendig wäre, damit ein wissenschaftliches Betreiben suisuffizient würde, ist nirgends deren eigenes Thema. Entsprechend ist die Vorstellung ein reines Phantasma, daß irgendwo das absolute Wissen zu sprechen und auf Fragen zu antworten begänne, die man ihm stellt, falls Beratungsbedarf besteht. Dieses Phantasma macht sich allerdings allerorten geltend, z.B. in der Vorstellung, daß Intransparenz von Finanzmärkten jeweils nur ein vorübergehender Effekt ist, daß jede Krise immer nur als Schritt einer folgendn besseren Synthese zu verstehen ist, und daß die Transparenz globaler Schuldverhältnisse grundsätzlich herstellbar ist. In einem wahrscheinlich nicht einmal besonders ungeschönten Bericht der Deutschen Bank vom 8. März 2010 heißt es beispielsweise zum Thema Credit Default Swaps, Finanzkontrakten, welche den Ausfall eines Schuldners in der Art eine Versicherungsvertrags absichern sollen:
“In den Jahren vor der Krise entwickelte sich der Markt für Credit Default Swaps (CDSs) rasant. Bis Mitte 2007 stieg das ausstehende Volumen auf insgesamt USD 58 Billionen – eine beachtliche Summe beispielsweise im Vergleich zum gesamten Anleihevolumen weltweit von ca. USD 80 Billionen. Das starke Volumenwachstum wurde getrieben durch die Nachfrage von Finanzinstituten, welche die neuen Instrumente zur Steuerung ihrer Portfoliorisiken, zunehmend aber auch zum Handel mit Kreditrisiken nutzten. Hohe Volumina in Verbindung mit einer starken Vernetzung der Marktteilnehmer führten zu der Sorge, dass der Zusammenbruch eines großen Marktteilnehmers zu schweren Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten führen könnte. Die zunehmende Vernetzung und die damit einhergehende Gefahr von Ansteckungseffekten spielte auch bei der Unterstützung des US Versicherers AIG (American International Group) mit öffentlichen Mitteln eine wichtige Rolle. In der Zeit vor der Krise hatte AIG als Sicherungsgeber beachtliche Risikopositionen aufgebaut, welche bei einem Kollaps von AIG andere Institute mit in den Abgrund zu reißen drohten. Schließlich fiel mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers eine wichtige Referenzeinheit aus, welche zugleich auch eine bedeutende CDS Gegenpartei darstellte. Die darauffolgende Reaktion des Marktes verlief auch deshalb relativ heftig, da große Unklarheit über die ausstehenden Risikopositionen herrschte. Nach einer genaueren Bestandaufnahme wurde jedoch schnell klar, dass die Nettorisiken nur einen Bruchteil der umfangreichen Nominalwerte der auf Lehman lautenden Kontrakte ausmachten. Die anfangs befürchteten Verluste fielen wesentlich geringer aus. Tatsächlich waren die Kosten für den Ersatz der mit Lehman geschlossen Kontrakte weit höher als die Nettoverluste derjenigen Kontrakte, welche auf Lehman als Referenzschuldner liefen. Als Antwort auf die internationale Finanzkrise forderten Aufsichts- und Regulierungsbehörden zusätzliche Maßnahmen zur Erhöhung der Transparenz und Verhinderung von Ansteckungseffekten. Bis heute währt die Debatte um eine Regulierung und Neuordnung der CDS Märkte fort. Von öffentlicher Seite wird u.a. die verpflichtende Abwicklung von over-the-counter (OTC) Geschäften über eine zentrale Gegenpartei gefordert. Darüber hinaus wird derzeit auch die Zentralisierung des Handels diskutiert. In der Zwischenzeit hat die Finanzindustrie selbst eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht, welche auf eine Verbesserung der Finanzstabilität und Erhöhung der Markteffizienz abzielen. Zusammengenommen bewirken die bereits ergriffenen und geplanten Maßnahmen eine Entwicklung des Marktes weg von einer dezentralen, hin zu einer zentraleren, börsenähnlichen Struktur.“4
Die grundsätzliche Herstellbarkeit globalen Wissens, also ein Überblick, der Arbitragen unmöglich macht, wird nach wie vor behauptet, und gleichzeitig wird die Möglichkeit erfolgreicher Finanzmarktspekulationen mit dem genau entgegengesetzten Argument behauptet, daß es nämlich unaufhebbare Unterschiede der Qualität des erreichbaren Wissens gibt. Was jetzt? Wer ist Subjekt, der beschworene Geist des Überblicks oder der die Bewegung treibende, handelnde Spekulant jeder Größenordnung, die rasende Negativität? The city never sleeps.
Das Ganzheitsphantasma wird zu einer partikularen und zynischen Attitüde, wenn man nach Hunderten nationaler Finanzkrisen seit 19705 die Dysfunktion nach wie vor als integrales Indiz, als systemeigene Negativität eines funktionierenden Systems versteht.
Aber welche Form von Denken wäre eigentlich erforderlich, um globale politische Aufgaben angemessen zu beschreiben und zu bewältigen, wie z.B. die, die aus dem menschengemachten Klimawandel resultieren? Offenbar ist hier ein totalisierendes globales Denken gefragter denn je und nicht mit dem Hinweis abzufertigen, daß jede Totalität ein Phantasma darstellt. Wie könnte das Phantasma totalen Wissens vermieden werden, das offenbar selbst Anteil am Zustandekommen der konsumptiven Maßlosigkeit hat, mit der die Menschheit den Planeten aufheizt?
Die globale Klimakatastrophe läßt den absoluten Geist unberührt. Der absolute Geist sorgt sich nicht. Sie wäre eine Krise wie andere. Wenn sie das Leben von ein, zwei oder noch mehr Milliarden Menschen kosten sollte, setzt sich damit geschichtlich fort, was Krisen, Kriege und Katastrophen seit je auszeichnet, nur in neuerlich weiter vergrößertem Maßstab. Was kann der selbstgenügsame absolute Geist auch dafür, daß die Menschen sich nicht selbst genügen? Das absolute Wissen ist nichts weiter als ein Gedanke. Es ist der zum Zynismus neigender Gedanke, daß sich das Leben – denn absolutes Wissen versteht Hegel als unausgesetzt aktives Leben - irgendwo jenseits seiner Bedürftigkeit, dort wo es nicht hungert und nicht schläft, mit sich selbst identisch wird. So sind denn Lebensverhältnisse ohne Hunger für einen Teil der Menschheit real und für andere nicht. Ein Leben jedoch ohne Schlaf ist allen unmöglich. Doch ohne daß einige schlafen, gibt’s für die Aufgeweckten keine Arbitrage.
Wie läßt sich also das Globale totalisieren, dieses All der besonderen Organismen,
die zum Teil globalen Regeln folgen und die sich zum Teil an sehr regionale Ordnungen halten?
Was kann man tun, wenn man das Ganze nicht versteht?
Hegels Philosophie stellte den Versuch eines Denkens dar, das ohne Komplexitätsreduktion auszukommen wollte.
Das erreicht zu haben, scheint mir Hegels Phantasma gewesen zu sein. Es erreichen zu wollen ist aber nicht im selben Sinn phantasmatisch. Die ungelöste und vermutlich unlösbare Aufgabe stellen wir uns heute immer noch und aus gutem Grund.
Denn wer wollte entscheiden, was beim Absehen vom all zu Besonderen geopfert wird und was nicht.
Wie läßt sich also das Globale zusammen mit dem Bedürftigen denken?
Der Reduktionismus der Naturwissenschaften macht da nicht viel Hoffnung, denn so erhellend das auch immer ist, es wird wahrscheinlich nicht ausreichen abzuschätzen, um wieviel sich die Erde bei unverändertem Wirtschaften erwärmt, es kommt einmal mehr darauf an, sie politisch zu verändern.
Und zwar möglichst wenig reduktionistisch, möglichst wenig partikularistisch, von einer möglichst angemessenen Vorstellung sowohl vom Ganzen, aus dem sich kein Hyperorganismus machen läßt, wie der Bedürftigkeit jedes einzelnen, der zweifellos ein Organismus ist und - was ebenso zählt, der Totalitätsgedanken ist nicht per se unwahrer oder phantasmatischer als der Gedanke des Besonderen, er ist Gefahr und Chance f�r das Besondere gleichermaßen - er bewahrt wie dies ein Stück Negativität und Freiheit.
Das ist Hegels Aktualität.
Anmerkungen:
1 Dieter Henrich, Hegel im Kontext, Frankfurt 1971, 95
2 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede (Quelle: www.zeno.org)
3 Ebd.
4 Deutsche Bank Research, 8.3.2010, Credit Default Swaps Auf dem Weg zu einem robusteren System
5 In
einer für den Internationalen Währungsfonds (IMF –
International Monetary Fund) zusammengestellten Datenbank wurden
zwischen 1970 und 2007 124 Bankenkrisen, 326 Währungskrisen und
64 Staatsverschuldungskrisen auf nationaler Ebene gezählt.
Größere Finanzkrisen
werden dabei definiert als Krisen im Finanzsektor, die mindestens
eines der drei folgenden Kriterien erfüllen: Kreditausfallrate
von mindestens 20 Prozent, Ausfall an Staatseinnahmen von mindestens
20 Prozent oder Wachstumsverluste in Bezug auf das BIP von
mindestens 10 Prozent.
Quelle: Luc Laeven, Fabian
Valencia (2008): Systemic Banking Crisis – A New Database, IMF
Working Paper WP 08/224, zitiert nach:
http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52625/finanzkrisen-seit-1970
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